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„Eine positive Demokratiegeschichte“

Ein Interview mit dem Bundesvorsitzenden Tonio Oeftering anlässlich des 30. Jahrestags der Deutschen Wiedervereinigung

Politische Bildung fristet oft ein Nischendasein. Dabei bietet gerade die Wiedervereinigung eine gute Gelegenheit, die Errungenschaften der Demokratie aufzuzeigen, sagt der Politikdidaktiker Tonio Oeftering anlässlich des 3. Oktober.

Herr Prof. Dr. Oeftering, wir feiern in Deutschland in diesen Tagen 30 Jahre Wiedervereinigung. Warum ist es wichtig, dass dieses Thema in den Mittelpunkt der politischen Bildung rückt?

Die Wiedervereinigung ist ein positiver Identifikationspunkt in unserem kollektiven Gedächtnis. Denn die friedliche Revolution ist eine der großen Errungenschaften nach dem zweiten Weltkrieg. Natürlich soll dies nicht den negativen Fixpunkt des Nationalsozialismus verdrängen – die Erfahrungen der NS-Zeit sind zentral für die deutsche Geschichte. Aber die Wiedervereinigung ist eine positive Demokratiegeschichte, die zeigt, was möglich ist, wenn Menschen friedlich für ihre Freiheit und ihre Rechte auf die Straße gehen. Im Politikunterricht an Schulen oder in der außerschulischen politischen Bildung ist die Wiedervereinigung zudem Lernanlass für einen praktischen Systemvergleich. Was für eine Diktatur war die DDR eigentlich? Welches sind die Errungenschaften der Demokratie und des Rechtsstaats, die es in der DDR nicht gab? Das sind Themen, die wir zu diesem Anlass aufgreifen können.

Laut des kürzlich veröffentlichten Jahresberichts zum Stand der Deutschen Einheit ist die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland in den neuen Ländern nach wie vor geringer als in den alten Bundesländern. Woran kann das liegen?

Die Gründe für diese Unterschiede sind vielschichtig. Es mag daran liegen, dass sich die politischen Kulturen in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich entwickelt haben. Hinzu kommt, dass sich die Lebensverhältnisse in beiden Teilen Deutschlands zwar angeglichen haben, aber trotzdem noch unterscheiden und beispielsweise Ostdeutsche in der Leitung von Unternehmen oder in führenden politischen Positionen unterrepräsentiert sind. Gerade im Osten fühlen sich manche nach wie vor als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse, deren vorangegangene Lebenserfahrungen entwertet wurden. Das hat Enttäuschungen produziert, die nicht in gute Bahnen gelenkt wurden. Da fühlen sich viele abgehängt.

Offenbar mangelt es laut Bericht gerade im Osten auch an Vertrauen in die Politik…

Es gibt ja auch durchaus Anlass zur Kritik. Politikerinnen und Politker sind in der Verantwortung, die Menschen nicht zu vergessen und eine Politik zu machen, die vertrauenswürdig ist – gerade, weil sich viele abgehängt fühlen. Hinzu kommt: Kräfte wie die AfD oder rechte Bewegungen versuchen gezielt, das Vertrauen in die Demokratie zu erschüttern und etwa unsere Regierung als diktatorisch zu brandmarken. Dabei geht die Wortwahl, wie „Altparteien“ oder „Lügenpresse“, auf nationalsozialistische Sprechweisen zurück. Die Demokratie, wie wir sie in den Jahren der Wiedervereinigung errungen haben, wird in Misskredit gebracht durch Leute, die eine bewusste Strategie haben. Doch wie agieren diese Gruppen? Wie sprechen sie und was sind die eigentlichen Interessen? Aufgabe der politischen Bildung ist, dies zu betrachten und die Vorzüge der Demokratie aufzuzeigen.

Ist denn vieles von dem, was wir gegenwärtig erleben, auch auf mangelnde Bildung zurückzuführen?

Ja, die politische Bildung ist oft stark defizitär – in Ost- und Westdeutschland. Aber gerade im Osten gibt es wenig Wissen, etwa über den Rechtsstaat. Und die DDR-Diktatur wird oft verharmlost. Das grundlegende Problem ist, dass politische Bildung ein Nischendasein fristet. Das ist skandalös vor dem Hintergrund der rechtspopulistischen und demokratiefeindlichen Entwicklungen in der Gesellschaft. In den Schulen ist Politikunterricht nur minimal in den Stundentafeln vertreten, wie Untersuchungen der Universität Bielefeld im „Ranking Politische Bildung“ regelmäßig zeigen. Zudem ist Politik eines der Fächer, die am häufigsten fachfremd unterrichtet werden. Und in der außerschulischen Bildung sieht es nicht besser aus – viele Angebote gibt es nicht mehr, weil die Einrichtungen um ihre Existenz kämpfen. Für eine gute politische Bildung ist aber eine verlässliche und langfristig angelegte Struktur nötig. Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Denn die Erwartung an den Politikunterricht ist ja, dass er junge Menschen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern macht, die informierte Entscheidungen treffen können.

Was müsste hier anders werden?

Der Unterricht sollte nicht nur mehr Stunden umfassen, sondern es ist auch wichtig, dass es eine gute und fundierte Ausbildung von Lehrern gibt. Das betrifft nicht nur die Politiklehrer selbst, sondern eigentlich alle Lehrerinnen und Lehrer – gerade, wenn es um demokratische Werte und Einstellungen geht. Meiner Meinung nach ist es eine Aufgabe der gesamten Schule, Demokratie zu lehren. Wir brauchen also guten Fachunterricht, und gleichzeitig ist die Schule als Institution gefragt. Das Jubiläum der deutschen Einheit zeigt, wie dringlich dies ist. Wir brauchen politische Bildung, um die Erfolgsgeschichte der Wiedervereinigung im Bewusstsein zu behalten und uns gleichzeitig den Herausforderungen aus den bislang nicht erledigten Aufgaben der Wiedervereinigung stellen zu können.

Interview: Constanze Böttcher

Quelle:
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (externe Website)